von Maria Runke
Schulen mit Ganztagsangeboten haben durch ihren konzeptionellen Grundgedanken (Durchführung eines Bildungs- und Betreuungsangebot an mindestens drei Tagen pro Woche für sieben Zeitstunden sowie Verpflichtung zur konzeptionellen Verbindung zwischen Unterricht und Nachmittagsangebot) die Möglichkeit zu einem veränderten Zeitmanagement, da ihnen mehr als der traditionelle Halbtag zur Verfügung steht (vgl. Hollenstein 2019, S. 1). Dabei sollen die Kinder und Jugendlichen zum einen lernen, zum anderen aber auch ihre Interessen, Hobbies und Bedürfnisse ausleben können. Bewegung sollte dabei im unterrichtlichen sowie nicht pädagogisierten Kontext eine entscheidende Rolle spielen.
AUF DEN RHYTHMUS KOMMT ES AN!
Im Handbuch „Grundbegriffe Ganztagsbildung“ konstatiert Kerstin Rabenstein, dass das Leben und Lernen in Schulen mit Ganztagsangeboten (kurz: GTA) in einen „kind- und lerngerechten Rhythmus“ (Rabenstein 2008, S. 549) gebracht werden sollen. Die besondere Chance von Schulen mit GTA liegt nun gerade darin, dass eine veränderte zeitliche Tagesstrukturierung auch ein erweitertes Angebot möglich macht. Allerdings: Wenn Kinder und Jugendliche mehr Zeit in der Schule verbringen, gehen damit auch neue Anforderungen hinsichtlich einer Orientierung am natürlichen Rhythmus der Kinder und Jugendlichen einher. Phasen der Anspannung und Entspannung sollen sich abwechseln, stark kognitiv ausgerichtete Phasen müssen durch Entspannungs- und Bewegungseinheiten aufgelockert werden. Da Kinder und Jugendliche einen Großteil ihres Tages in der Schule mit GTA verbringen, müssen sie hier auch die Möglichkeit haben, ihren kindlichen Bewegungsdrang auszuleben und Impulse für ein nachhaltig gesundes Bewegungsverhalten bekommen.
MENSCH, BEWEG DICH!
Die Notwendigkeit zu mehr Bewegung ergibt sich in vielfacher Hinsicht: Die Lebensbedingungen und das Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen werden heute vielfach von durchgetakteten Terminkalendern, Medienkonsum und dem Aufenthalt in Räumen bestimmt. Auch Ängste der Eltern (z.B. vor einem „unkontrollierten“ Spiel draußen und Gefahren in der Natur) tragen dazu bei, dass Kinder und Jugendliche sich insgesamt zu wenig bewegen. Die Empfehlung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) liegt bei mindestens 90 Minuten moderater bis aktiver Bewegung für Kinder und Jugendliche am Tag (vgl. Rütten/Pfeifer, S. 25f.). Die WHO schlägt zumindest 60 Minuten aktive bis anstrengende Bewegung vor. Das sind nur Mindestempfehlungen. Die tatsächlichen Zahlen sind jedoch ernüchternd: Kinder und Jugendliche bewegen sich nur etwa 15-30 Minuten intensiv (vgl. Breithecker et al., S. 9). Auch eine Langzeitanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und des Robert-Koch-Instituts im Rahmen des Motorik-Moduls (MoMo) der Studie zur Körperlichen Aktivität und Fitness von Kindern und Jugendlichen in Deutschland bestätigt, dass sich 80 Prozent der Kinder und Jugendliche zu wenig bewegen (vgl. KIT 2012). Außerdem zeigte die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (kurz: KiGGs) 2017, dass sich die Schere zwischen sehr fitten Kindern und denen, die sich gar nicht bewegen, immer weiter öffnet. Um diesen Trends entgegenzuwirken, sind auch die Schulen in der Pflicht. Denn die Folgen des Bewegungsmangels sind weitreichend und wirken sich körperlich wie psychosozial aus: Viele Kinder und Jugendliche sind bereits übergewichtig, leiden an Muskelschwund, Rückenschmerzen und Haltungsschäden. Auch spätere Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislaufprobleme und Stoffwechselerkrankungen werden begünstigt. Bewegung mit Gleichaltrigen ist außerdem eine wichtige Quelle für soziale Kontakte, zur Befriedigung von Neugier, Erfahrungshunger und Abenteuerlust. Und nicht zuletzt für die Schule ausschlaggebend: Fehlt die Bewegung, macht sich schnell Müdigkeit und Unausgeglichenheit breit. Denn Bewegung steigert die Konzentrations-, Lern- und Leistungsfähigkeit (vgl. Breithecker et al., S. 20).
Abb. 1: Der Alltag unserer Kinder, eigene Darstellung nach Breithecker/Rinderl/Sowodniok,/Wnuck. 2004, S. 9.
MEHR BEWEGUNG - ABER WIE?
Ein verändertes Zeitstrukturierungsmodell von Schulen mit Ganztagsangeboten, das Lernen über den ganzen Tag verteilt ermöglichen soll, macht auch zusätzliche Bewegungszeiten notwendig. Der Sportunterricht allein kann den Bewegungshunger nicht stillen und den Bedarf der Kinder und Jugendlichen nicht decken. Über alle Schulformen hinweg sind es nicht mehr als 2-3 Sportstunden in der Woche. Dabei haben Schulen mit GTA durch eine flexiblere Zeitgestaltung die Chance zur besseren Rhythmisierung: Doppel- statt Einzelstunden und verlängerte Pausen können Lern- und Bewegungszeiten effektiver machen und die „Chance einer verlängerten echten Lernzeit“ (Adrian 2008, S. 43) bieten. Bewegungsorientierte Angebote können in den „normalen“ Unterrichtsalltag integriert werden und müssen nicht ausschließlich als GTA am Nachmittag angeboten werden. Gerd Adrian beschreibt in einem Artikel für „Praxis Schule“ die Einführung eines bewegten Mittagsbands in einer Ganztagsschule in Hessen: Über ein spezielles Themenband „Gesundheit, Sport und Entspannung“ werden Bewegungsimpulse und -angebote bereits in den Pflichtunterricht integriert und schließlich durch die bewegungsorientierte Mittagspause mit diversen Sport- und Spielmöglichkeiten sowie nicht sportartspezifischen Angeboten angereichert. Doch auch über solche planungs- und organisationsintensiven Einheiten hinaus – an denen in der Regel die ganze Schule unter Einsatz personeller und finanzieller Ressourcen beteiligt ist – gibt es zahlreiche einfache Möglichkeiten, wie Lehrkräfte Bewegung ins Unterrichtsgeschehen und die Pausen integrieren können.
SO FUNKTIONIERTS: TIPPS FÜR BEWEGTEN UNTERRICHT UND BEWEGTE PAUSEN
1. Schon die Möglichkeit zum dynamischen Sitzen schafft kurze Bewegungszeiten und ermöglicht den Schüler*innen einen Haltungswechsel während der Unterrichtsstunden. In diesem Sinne ist es vollkommen in Ordnung und sogar förderlich, wenn die Kinder und Jugendlichen auf ihren Stühlen knien, im Schneidersitz sitzen oder ihre Stühle umdrehen und sich „rittlings“ daraufsetzen. Auch kurze Ruhephasen, in denen der Kopf auf Armen und Tisch abgelegt wird, sind empfehlenswert. Zu weiterer Bewegung kann die Lehrkraft beitragen, wenn sie häufige Wechsel der Unterrichtsmethoden und -organisationsformen einbaut und Phasen des Unterrichts in Sitzkreise verlegt, in welchen die Schüler*innen sogar die Möglichkeit erhalten, im Liegen am Gespräch teilzunehmen.
2. Handlungsorientierter Unterricht birgt eine weitere Möglichkeit, Lernen mit allen Sinnen und damit einen Wechsel von Konzentration und Entspannung im Unterricht zu ermöglichen. Eine Idee für eine solche bewegte Lernform ist das Spiel „Buchstaben werfen“ (vgl. Boos 2019, S. 70). In den Literaturempfehlungen (siehe unten) finden sich viele weitere Anregungen.
Abb. 2: Spielidee Buchstaben werfen, eigene Darstellung nach Boos 2019, S. 70.
3. Zusätzlich zu den üblichen Pausen zwischen den Unterrichtsstunden sollten aktive Bewegungspausen in den Unterricht integriert werden. So kann man nach einer bestimmten Zeit ein Bewegungsspiel, eine Entspannungs- oder Aufmerksamkeitsübung einarbeiten. Das wirkt Ermüdungserscheinungen, Unaufmerksamkeit und motorischer Unruhe entgegen. Studien belegen, dass Bewegung den Kreislauf aktiviert, die Behaltensleistung verbessert, die Verknüpfung neuer Nervenverbindungen fördert und somit insgesamt lernförderlich wirkt (vgl. Boos 2019, S. 9). Es empfiehlt sich also, den üblichen 45-Minuten-Rhythmus der Unterrichtsstunden zu unterbrechen und beispielweise schon nach 20 Minuten intensiver Lernzeit eine 5-minütige Pause einzulegen. Allgemein gilt, sich diesbezüglich an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen zu orientieren.
4. Natürlich darf auch die Einladung zu Bewegung in den regulären Pausen zwischen den Unterrichtsstunden nicht fehlen: Eine entsprechende Gestaltung der Schulräume und des Schulhofs mit Bewegungs- und Entspannungsangeboten sind eine Voraussetzung dafür.
Heike und Claus Beckmann sprechen sich in ihrem Artikel „Die rollende Pause“ explizit dafür aus, den Schüler*innen in der Schule innere wie äußere Bewegungszeiten zu ermöglichen: Pädagogisch angeleitete, bewegungsorientierte Lernformen und Pausen gehören ebenso dazu wie frei wählbare und nicht pädagogisierte Bewegungs- und Entspannungsangebote in Form von Sitz- und Leseecken, Ruhezonen sowie Spiel- und Naturfreiräumen (vgl. Beckmann/Beckmann 2001, S. 54). Dabei sollte immer auch eine mögliche Verknüpfung der Angebote mit dem Freizeitverhalten der Kinder und Jugendlichen mitgedacht werden. Die Bewegungs- und Entspannungsangebote sollten also für die Schüler*innen ein adaptierbares Modell für die eigene Freizeit darstellen. Auf diese Weise kann eine bewegungsorientierte Schule über den Sportunterricht hinaus Zugänge für eine bewegungsaktive und somit gesunde Lebensgestaltung anbieten.
LITERATUREMPFEHLUNGEN
Zahlreiche Publikationen geben Tipps für bewegten Fachunterricht und bewegte Pausen. Stellvertretend sollen hier drei lohnende Bücher für die Schulpraxis genannt werden:
Boos, A. (2019): Die 50 besten Spiele für die „Bewegte Schule“. München: Don Bosco Medien GmbH.
Both, A./Brandt, B./Breithecker, D./Jaklen, M./Kosel, A./Lanhen, H.-J./Polläne, H./Stanowski, H./Wnuck, A. (2004): Bewegte Kinder – Schlaue Köpfe. Sinzig: Krupp Druck OHG.
Breithecker, D./Rinderle, B./Sowodniok, B./Wnuck, A. (2004): Das AOL-Bewegungsbuch für den Unterricht der Klasse 1-4. Rastatt: Greiserdruck.
LITERATURVERZEICHNIS
Adrian, G. (2008): Mittags in Bewegung. Den Tag rhythmisieren. In: Praxis Schule 5 - 10, 19 (2008) 6, S. 42-45.
Beckmann, C./Beckmann, H. (2001): Die rollende Pause. In: Grundschule, 33 (2001) 10, S. 54-55.
Boos, A. (2019): Die 50 besten Spiele für die „Bewegte Schule“. München: Don Bosco Medien GmbH.
Both, A./Brandt, B./Breithecker, D./Jaklen, M./Kosel, A./Lanhen, H.-J./Polläne, H./Stanowski, H./Wnuck, A. (2004): Bewegte Kinder – Schlaue Köpfe. Sinzig: Krupp Druck OHG.
Breithecker, D./Rinderle, B./Sowodniok, B./Wnuck, A. (2004): Das AOL-Bewegungsbuch für den Unterricht der Klasse 1-4. Rastatt: Greiserdruck.
Hollenstein, E. (2019): Ganztagsschule. Socialnet Lexikon. Bonn. URL: https://www.socialnet.de/lexikon/Ganztagsschule (Zugriff: 28.07.2020).
Journal of Health Monitoring (2018): Sport- und Ernährungsverhalten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Robert Koch-Institut. URL: https://edoc.rki.de/handle/176904/5687 (Zugriff: 28.07.2020). DOI: 10.17886/RKI-GBE-2018-065.
Laging, R. (2008): Bewegung und Sport. In: Coelen, T./Otto, H.-U. (Hrsg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung – Das Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH. S. 253-262.
Rabenstein, K. (2008): Rhythmisierung. In: Coelen, T./Otto, H.-U. (Hrsg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung – Das Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH. S. 549-556.
Sting, S. (2008): Gesundheit. In: Coelen, T./Otto, H.-U. (Hrsg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung – Das Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH. S. 289-298.
Rütten, A./Pfeifer, K. (2016) (Hrsg.): Nationale Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – KiGGS. Robert-Koch-Instituts. URL: https://www.kiggs-studie.de/deutsch/home.html (Zugriff: 24.07.2020).
Woll, A./Oriwol, D./Anedda, B./Burchartz, A./Hanssen-Doose, A./Kopp, M./Niessner, C./Schmidt, S. C. E./Bös, K. & Worth, A. (2019): Körperliche Aktivität, motorische Leistungsfähigkeit und Gesundheit in Deutschland: Ergebnisse aus der Motorik-Modul-Längsschnittstudie (MoMo). KIT SCIENTIFIC WORKING PAPERS 121. DOI: 10.5445/IR/1000095369.
World Health Organization (2009): WHO Guidelines Approved by the Guidelines Review Committee. Interventions on Diet and Physical Activity: What Works: Summary Report. Genf.
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