von Jessica Mandel
Üben und Lernen in Schulen wird oftmals getrennt. Meist herrscht dort die Auffassung: „In der Schule wird gelernt, zu Hause wird geübt.“ (Grimm/Schulz-Gade 2015, S. 35) So werden den Kindern Hausaufgaben aufgegeben, die es gilt, am Nachmittag zu Hause zu erledigen. Dabei müssen die Eltern oder älteren Geschwister helfen, was zu Streit in der Familie führt. Laut einer Bertelsmann-Studie erhalten 6% aller Grundschulkinder Nachhilfeunterricht, wofür Eltern jährlich 143 Millionen Euro ausgeben (vgl. Klemm/Klemm 2010, S. 25). 77% der Eltern müssen ihren Kindern vor Klassenarbeiten und Referaten helfen und 63% erarbeiten zu Hause noch einmal mit ihnen die Lerninhalte (vgl. TNS Emnid 2012, S. 8). Sollte es nicht die Aufgabe der Schule sein, die Schüler*innen adäquat auf den Unterricht und Leistungskontrollen vorzubereiten? Das veränderte Zeitpensum einer Schule mit Ganztagsangeboten macht es möglich. Durch eine Rhythmisierung des Schultages kann Unterricht und Lernen effektiv zusammengeführt werden. Doch was bedeutet Lernzeit und wie kann man sie individuell gestalten?
WAS BEDEUTET LERNZEIT?
Der Begriff Lernzeit beschreibt die Zeit, in welcher Schüler*innen lernen und an den gestellten Aufgaben arbeiten. Das mag trivial klingen, jedoch ist das im klassischen Unterricht nicht immer zu erkennen. Viel Zeit wird durch organisatorische Belange oder Disziplinierung aufgewendet. Allein Unterrichtsbeginn, Überleitungen und Stundenende beanspruchen kostbare Zeit (vgl. Höhmann/Kummer 2007, S. 92; Lindemann/Ripken, 2003 S. 38).
Individuelle Lernzeit besteht nach Köck und Ott aus drei Komponenten:
„individuelle Leistungsfähigkeit: lerngünstige und -ungünstige Zeitspannen in Abhängigkeit vom Biorhythmus der Leistungsbereitschaft“
„individuelle Leistungsdauer – maximale Lerndauer“
„individuelle Leistungsgeschwindigkeit – Lerngeschwindigkeit“ (Höhmann/Kummer 2007, S. 92)
Außerdem setzt sie sich nach ihrer Auffassung aus dem „Ablaufplan des Unterrichts“ zusammen, wobei zwischen „vorgesehener, tatsächlich nutzbarer und schließlich genutzten Lernzeit“ unterschieden wird (ebd. S. 92).
WIE KÖNNEN MODELLE DES ÜBERGANGS AUSSEHEN?
Anhand der folgenden Modelle kann die Entwicklung von den Hausaufgaben zur vollständig integrierten individuellen Lernzeit in den Unterricht nachvollzogen werden.
Abb. 1: Externes Modell, eigene Darstellung nach Grimm/Schulz-Gade 2015, S. 35.
Abb. 2: Additives Modell, eigene Darstellung nach Grimm/Schulz-Gade 2015, S. 35.
Abb. 3: Teilintegratives Modell, eigene Darstellung nach Grimm/Schulz-Gade 2015, S. 36.
Abb. 4: Integratives Modell, eigene Darstellung nach Grimm/Schulz-Gade 2015, S. 37. Hausaufgaben sind Übungsaufgaben, welche von den Lehrkräften erteilt und von den Schüler*innen zu Hause selbstständig erarbeitet werden sollen (vgl. Köck/Ott 2002, S. 287). Dies zeigt das erste Modell. Die Hausaufgaben stehen mit den unterrichtlichen Inhalten im Zusammenhang, wodurch eine Integration dieser in den Schulalltag und schlussendlich auch in den Unterricht notwendig ist. In den Modellen 3 und 4 werden Lernen und Üben verbunden. Das 4. Modell soll nicht das Non-plus-ultra darstellen. Es kommt auf eine hohe Qualität der Umsetzung der Modelle 3 und 4 in die Schule mit Ganztagsangeboten an (vgl. Grimm/Schulz-Gade 2015, S. 34).
WAS SIND GELINGENSBEDINGUNGEN BZW. VORAUSSETZUNGEN FÜR DIE EINFÜHRUNG VON INDIVIDUELLER LERNZEIT?
Vor der Einführung der individuellen Lernzeit in die Schule und in den Unterricht sollte es eine intensive Auseinandersetzung des Kollegiums und der Schulleitung mit dem Thema geben. Dabei sollte über Aspekte wie Kooperation, Ressourcen, Kooperationspartner*innen, zeitlicher Umfang, Tagesablauf, Regeln und Rituale diskutiert werden (vgl. Grimm/Schulz-Gade 2015, S. 130ff.).
Damit die individuellen Lernzeiten nicht als Hausaufgabenbearbeitung in der Schule bzw. im Unterricht fungieren, ist es wichtig, eine didaktisch-methodische Einheit zwischen dem Unterricht und den Lernzeiten herzustellen. Dazu bedarf es einer Individualisierung der Aufgabenformate. Sie müssen an die Bedürfnisse der Schüler*innen angepasst sein, sodass die Lernenden an ihrem Leistungsstand anknüpfen und sich selbstständig weiterbilden können (vgl. Kaufmann 2007, S. 32).
Die Lehrkraft soll als Lernbegleiter*in dienen und somit die letzte Anlaufstelle bei Fragen und Problemen darstellen. Das heißt, dass die Kinder und Jugendlichen zuerst Lernstrategien anwenden oder Hilfe bei Mitschüler*innen suchen, bevor sie sich an die Lehrkraft wenden. Dadurch ist es nicht zwingend nötig, eine Doppelbesetzung für die Lernzeiten einzurichten. Aufgrund der gewonnenen Zeit als Lernbegleiter*in können einzelne Schüler*innen individuell betreut und gefördert werden (vgl. ebd.). Die Gruppeneinteilung der Klasse hinsichtlich leistungsschwächerer und leistungsstärkerer Schüler*innen kann somit aufgehoben werden. Um die Individualisierung stärker zu gewährleisten, sollte das Kollegium die folgenden Aspekte in den Blick nehmen:
Materialien
Unterrichtsvorhaben
Arbeitsformen
Ermitteln und Rückmelden des Lernstandes (vgl. Grimm/Schulz-Gade 2015, S. 127f.)
Bei der räumlichen Gestaltung sollten die Bedürfnisse der Schüler*innen berücksichtigt werden. Ruheräume wie Bibliotheken können zur besseren Konzentration und Fokussierung auf die Aufgaben dienen. Daneben sollte es Kommunikationsräume geben, in denen die Lernenden die Möglichkeit haben, sich mit Mitschüler*innen auszutauschen und kooperativ zu arbeiten. Der Faktor „Zeit“ spielt dabei eine große Rolle. Es sollte genügend Zeit für die individuelle Lernzeit zur Verfügung stehen, sodass auch leistungsschwächere Schüler*innen dieses Angebot effektiv nutzen können. Dazu gehört auch die Position im Stundenplan. Während gebundene Ganztagsschulen flexibel hinsichtlich der Einbindung sind, sind die individuellen Lernzeiten in offenen Schulen mit Ganztagsangeboten eher am Nachmittag zu finden. Ebenso gibt es die Möglichkeit eines Hausaufgabenbandes. Dazu bietet sich auch die Aufhebung des 45-Minuten Taktes an (vgl. Höhmann/Schaper 2008, S. 579ff.).
WELCHE TIPPS KÖNNTEN BEI DER UMSETZUNG DER INDIVIDUELLEN LERNZEIT HILFREICH SEIN?
Die individuellen Lernzeiten können vor, während oder auch nach dem Unterricht stattfinden und dienen dem Nachholen von versäumtem Unterrichtsstoff, der Vorbereitung auf Leistungskontrollen oder der Erledigung von Hausaufgaben/Übungsaufgaben. Durch den Einsatz von Lehrkräften als Lernberater*innen können die Schüler*innen individuell gefördert werden, frei nach dem Motto: so wenig wie möglich, so viel wie nötig.
In diesen Zeiten spielt die Individualisierung eine große Rolle. Da es eine didaktisch-methodische Einheit aus individueller Lernzeit und Unterricht geben soll, ist die Öffnung des Unterrichts grundlegend. Die Interessen und Bedürfnisse der Schüler*innen können durch ihre Mitbestimmung aufgegriffen werden. Dazu kann der Einsatz von offenen Lernformen hilfreich sein. Beispiele dafür sind:
Wochenplanarbeit
Stationenarbeit
Freiarbeit
Projektarbeit (vgl. Hericks 2019, S. 95f.)
Um ein „eigenverantwortliches und selbstgesteuertes Lernen“ zu ermöglichen, sollten die Aufgaben folgenden Prinzipien folgen:
keine Über- oder Unterforderung der Schüler*innen
Zusammenhang zum Unterricht
Interessen und Bedürfnisse der Schüler*innen aufgreifen
transparente, gut verständliche, schriftliche Vorlage der Aufgaben
Offenheit der Aufgaben
zeitliche Angemessenheit
Würdigung aller Bearbeitungen (vgl. Althoff/Boßhammer/Eichmann-Ingwersen/Schröder 2012, S. 43)
Hinsichtlich der individuell lerngünstigen und -ungünstigen Lernzeiten gibt es die Möglichkeit, den Kindern und Jugendlichen einen Zeitraum zu schaffen, indem sie selbst entscheiden können, wie und wann sie lernen. Dabei ist es hilfreich „Räume des Wissens“ zu schaffen, zu denen die Schüler*innen zu bestimmten Zeiten freien Zugang haben. Die Lernenden können in ihren eigenen Lernkarteikarten protokollieren, was sie in dieser Zeit geschafft haben.
Das Dokumentieren der individuellen Ergebnisse z.B. in einem Log- oder Lerntagebuch hilft den Kindern und Jugendlichen bei der Selbstreflexion. Sowohl die Lehrkräfte als auch die Eltern erhalten einen Überblick über den Lernprozess der Schüler*innen, wodurch eine Kommunikation zwischen Schule und Eltern gesichert werden kann. Durch einfache Fragen wie
Was nehme ich mir vor?
Was habe ich gearbeitet?
Welche Ziele habe ich erreicht?
Was muss ich noch lernen?
kann die Planung der individuellen Lernzeit sowie die Reflexion begünstigt werden (vgl. Grimm/Schulz-Gade 2015, S. 144).
Die Kooperation mit den Eltern kann beispielsweise durch ein Morgenband gestaltet werden. Dabei haben die Eltern jeden Morgen 30 Minuten Zeit, am Unterricht teilzunehmen und ihren Kindern beim Lernen zuzuschauen oder sie dabei zu unterstützen. Dies begünstigt auch den Austausch zwischen Eltern und Lehrkräften während des gesamten Schuljahres. Dadurch werden die Eltern in die individuelle Lernzeit der Schüler*innen einbezogen und können so in deren Lernprozess einwirken (vgl. DKJS 2016).
Sind alle Rahmenbedingungen geschaffen und ein Konzept entwickelt, können Hausaufgaben abgeschafft und individuelle Lernzeiten in den Schulalltag integriert werden. So können Streitthemen in der Familie behoben und Förderunterricht sowie Nachhilfe minimiert werden.
LITERATURVERZEICHNIS
Althoff, K./Boßhammer, H./Eichmann-Ingwersen, G./Schröder, B. (2012): QUIGS SEK I – Qualitätsentwicklung in Ganztagsschulen der Sekundarstufe I. URL: https://www.ganztag-nrw.de/fileadmin/user_upload/ISA-0184-GanzTag-Bd24_Web.pdf (Zugriff: 26.04.2021).
Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) (2016). Eltern machen mit. URL: https://www.ganztaegig-lernen.de/eltern-machen-mit (Zugriff: 26.04.2021).
Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) (o.J.): Chancen für alle – Schulaufgaben in der Praxis URL: http://www.berlin.ganztaegig-lernen.de/Bibliothek/veroeffentlichungen (Zugriff: 05.08.2020).
Grimm, W./Schulz-Gade, G. (2015): Übungs– und Lernzeiten an der Ganztagsschule. Ein Praxisleitfaden zur Integration von Hausaufgaben in den Ganztag. Schwalbach/Ts.: Debus Pädagogik/Wochenschau.
Hericks, N. (2019): Offener Unterricht als Möglichkeit zum Umgang mit Heterogenität. URL: https://www.herausforderung-lehrerinnenbildung.de/index.php/hlz/article/download/2431/2430/ (Zugriff: 26.04.2021).
Höhmann, K./Kummer, N. (2007): Mehr Lernzeit durch einen anderen Umgang mit Zeit. In: Kahl, H./Knauer, S. (Hrsg.): Bildungschancen in der neuen Ganztagsschule – Lernmöglichkeiten verwirklichen. Weinheim und Basel: Beltz, S. 91-103.
Höhmann, K./Schaper, S. (2008): Hausaufgaben. In: Coelen, T./Otto, H.-U. (Hrsg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 576-584.
Kaufmann, E. (2007): Individuelle Förderung in ganztägig organisierten Schulformen im Primarbereich. URL: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/Abschlussbericht_Individuelle_Foerderung.pdf (Zugriff: 26.04.2021).
Klemm, K./Klemm, A. (2010): Ausgaben für Nachhilfe – teurer und unfairer Ausgleich für fehlende individuelle Förderung. URL: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_Ausgaben_fuer_Nachhilfe.pdf (Zugriff: 26.04.2021).
Köck, P./Ott, H. (2002): Wörterbuch für Erziehung und Unterricht. Donauwörth: Auer Verlag GmbH.
Lindemann, A./Ripken, B. (2003): Zehn Merkmale guten Unterrichts – Empirische Befunde und didaktische Ratschläge. Intensive Nutzung der Lernzeit. URL: https://www.ph-freiburg.de/fileadmin/dateien/fakultaet1/ew/Personen/bender/Fachdidaktik-II/Meyer-H-Guter-Unterricht.pdf (Zugriff: 06.08.2020).
TNS Emnid (2012): 2. JAKO-O Bildungsstudie. Kurzzusammenfassung. URL: https://www.ag-familie.de/media/docs/Kurzzusammenfassung_2_JAKO-O_Bildungsstudie.pdf (Zugriff: 26.04.2021).
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