von Antje Barkenfelt
AUFGABENFELDER EINER LEHRKRAFT
Gemäß der gemeinsamen Erklärung der Kultusministerkonferenz (KMK) und einiger Lehrerverbände im Jahr 2000 umfassen die Aufgaben von Lehrer*innen die Bereiche: Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Beraten, die Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen sowie die Mitgestaltung der Schulentwicklung (vgl. KMK 2000, S. 2ff.). Abbildung 1 zeigt die Aufgabenbereiche einer Lehrkraft und die dazugehörigen Aufgaben.
Abb. 1.: Aufgabenbereiche einer Lehrperson, eigene Darstellung, Quelle: KMK 2000, S. 2ff.
Je nach Bezugsperson oder -gruppe (Eltern, Schulleiter*in, Kolleg*innen, Schüler*innen, Öffentlichkeit usw.) gehen mit diesem breiten Aufgabenspektrum verschiedene, teils widersprüchliche Erwartungen an das Verhalten einer Lehrperson einher. Daraus konstituieren sich vielfältige Rollen, die eine Lehrkraft in der Ausübung ihres Berufs einnehmen muss (vgl. Henecka 2015, S. 107ff.). So ist sie, den Aufgabenbeschreibungen der KMK folgend, in erster Linie Expert*in des Lernens, Wissensvermittler*in, Planer*in und Organisator*in von Lehr- und Lernprozessen sowie Unterstützer*in von Schüler*innen und Mitverantwortliche eines guten Schulklimas (vgl. KMK 2000, S. 2f.). Daneben übernimmt sie viele weitere mögliche Rollen: Vorbild, Erzieher*in, Berater*in, Kolleg*in, Schulentwickler*in, Funktionsstelleninhaber*in u.v.m. (vgl. Rothland 2013, S. 31).
VERÄNDERTE ANFORDERUNGEN AN LEHRKRÄFTE IN SCHULEN MIT GANZTAGSANGEBOTEN
Mit dem Trend zu Schulen mit Ganztagsangeboten haben sich sowohl die Rahmenbedingungen, als auch die Anforderungen und Erwartungen an die Kompetenzen einer Lehrkraft verschoben (vgl. Rollet 2013, S. 72). Schulen mit Ganztagsangeboten bieten durch flexiblere Zeitstrukturen und durch die Öffnung der Schule nach innen und außen nicht nur Alternativen, Unterricht zu planen und zu gestalten, sondern eröffnen vielfältigere Wege, den Schüler*innen zu begegnen und sie zu beteiligen. Die individuelle Förderung einer heterogenen Schülerschaft im Regelunterricht und in zusätzlichen Lernangeboten erhält ebenso eine höhere Wichtigkeit wie die Gestaltung der Schule als Lebensort. Durch eine längere Anwesenheit der Schüler*innen und damit auch der Lehrer*innen am Ort Schule treten Erziehung, soziales Lernen und Aspekte der Freizeitgestaltung verstärkt in den Vordergrund (vgl. Brinkmann/Müller 2017, S. 3f.).
Die Anforderungen an Lehrkräfte in ganztägig arbeitenden Schulen verändern sich: So sind diese in der Regel länger in der Schule präsent, eine neue und individualisierte Lehr- und Lernkultur muss entwickelt werden. Dazu kommen die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Akteuren, ein stärkerer Erziehungsauftrag und die höhere Bedeutung des sozialen Lernens sowie die Mitwirkung an der Entwicklung der Schule (vgl. Speck 2012, S. 56ff.). Abbildung 2 stellt die veränderten Anforderungen an Lehrer*innen an Schulen mit Ganztagsangeboten dar.
Abb. 2: Anforderungen an Lehrer*innen an Schulen mit Ganztagsangeboten, eigene Darstellung, Quelle: Speck 2012, S. 56f.f; Rollett 2013, S. 72.
Eine veränderte Zeitstruktur bspw. durch Rhythmisierung oder Taktung des Tagesablaufs erfordert ein längeres Beisammensein mit den Schüler*innen und somit eine stärkere Orientierung der Lehrkraft an den Kindern bzw. Jugendlichen (vgl. Rollett 2013, S. 72). Gemäß dem Erziehungswissenschaftler Werner Helsper „verschiebt sich damit das Arbeitsbündnis von einem um Sach- und Inhaltsbezüge zentrierten Arbeitsbündnis zu einem stärker diffus auf die ganze Person bezogenen Arbeitsbündnis“ (vgl. Helsper 2016, S. 229). Damit verliert der Unterricht nicht an Bedeutung, jedoch verstärken sich personenbezogene Rollen, die eine Lehrkraft ihren Schüler*innen gegenüber einnehmen muss. Neben der Rolle als Lehrende*r ist eine Lehrkraft vermehrt Ansprechpartner*in, vor allem aber auch Bildungsanwält*in und Therapeut*in, die den Kindern in Fragen zur Schullaufbahn beratend und unterstützend zur Seite steht (vgl. ebd., S. 230ff.).
Da von Lehrkräften erwartet wird, dass sie selber außerunterrichtliche Ganztagsangebote organisieren und durchführen, entstehen zum einen Möglichkeiten der stärkeren Individualisierung und zum anderen tritt „fachunabhängiges, überfachliches und auch non-formales Lernen“ in den Vordergrund (vgl. Rollett 2013, S. 75). Um eine Verzahnung von Unterricht und Angebot zu gewährleisten, hebt Rollet die multiprofessionelle Kooperation zwischen Lehrer*innen, außerschulischen Akteur*innen und dem weiteren pädagogischen Personal hervor (vgl. ebd.). Diese umfasst „die Festlegung gemeinsamer Ziele und Aufgaben und [die] regelmäßige Kommunikation“ mit innerschulischen Kolleg*innen, als auch „eine gemeinsame Konzeptentwicklung und Fortbildung sowie die Festlegung von Zuständigkeiten“ mit dem weiteren pädagogischen Personal (vgl. ebd., S. 72). Außerschulische Akteure erwarten von Lehrkräften vor allem eine offene Kommunikation, die gleichwertige Beteiligung an der Klärung von relevanten Fragen zur Organisation und Pädagogik sowie Lern- und Anpassungsbereitschaft (vgl. Krieger 2005, S. 73).
Helsper betont die Vorteile einer engen Kooperation bei der Individualisierung und Öffnung des Unterrichts (vgl. Helsper 2016, S. 236). An ganztägig arbeitenden Schulen gibt es tendenziell eine Verschiebung vom lehrergelenkten Klassenunterricht hin zu offeneren, individualisierten Unterricht. Daneben sehen sich Lehrkräfte zunehmend einer wachsenden Heterogenität der Schülerschaft und damit einer erhöhten Komplexität der Erwartungen gegenüber (vgl. ebd., S. 234). Eine effektive Zusammenarbeit verschiedener Professionen der Schule und der Lehrkräfte untereinander kann dazu beitragen, die Belastung der Lehrkräfte zu reduzieren. Zugleich bietet die gegenseitige Unterstützung des Personals bei der Planung und Durchführung des Unterrichts sowie bei der Auswahl und Erstellung von Materialien die Chance, individuellen Bedürfnissen der Schüler*innen besser gerecht zu werden (vgl. ebd., S. 236). Das Bild einer Lehrkraft als Einzelkämpfer*in weicht somit der Anforderung, sich als Mitglied eines multiprofessionellen Teams zu verstehen.
So vielfältig die Schüler*innen sind, so unterschiedlich sind auch deren Eltern und damit auch ihre Ansprüche und Erwartungen, denen eine Lehrkraft gleichermaßen entgegen kommen sollte (vgl. ebd., S. 235). An Schulen mit Ganztagsangeboten geht die Elternarbeit mit umfangreicheren Beteiligungsmöglichkeiten der Eltern einher als an Schulen im Halbtagsbetrieb. So engagieren sich Eltern bei der Gestaltung des Schullebens (vgl. Rehm 2018, S. 53) oder agieren als Akteur*innen im Schulentwicklungsprozess (vgl. ebd., S. 42). Eltern erwarten ihrerseits gleichzeitig eine intensivere „Bildungs- bzw. Erziehungspartnerschaft“ (vgl. Rollett 2013, S. 75; Hollenbach-Biele/Zorn 2016, S. 22f.).
An Schulen mit Ganztagsangeboten geht die Arbeit als Lehrer*in aufgrund der erweiterten Anforderungen und Erwartungen der verschiedenen Akteur*innen schließlich auch mit „gesteigerten Reflexionsanforderungen“ einher (vgl. Helsper 2016, S. 237). Unterstützung kann diesbezüglich bei „Supervisoren, Coachs, Organisations- und Schulentwicklungsberatung“ eingeholt werden (vgl. ebd.).
Der Monitor Lehrerbildung 1 fasst zusammen: Als neue Schlüsselkompetenzen einer Lehrkraft gelten die Fähigkeit zur Kooperation in einem multiprofessionellen Team, die Fähigkeit mit Vielfalt umzugehen, sowie die Fähigkeit zur Mitgestaltung der Schulentwicklung (vgl. Brinkmann/Müller 2017, S. 6).
ERWEITERTES ROLLENVERSTÄNDNIS
Die mit der Öffnung der Schule und einer veränderten zeitlichen Struktur einhergehenden neuen Anforderungen an Lehrer*innen in einer Schule mit Ganztagsangeboten erfordern ein erweitertes Rollenverständnis des Lehrberufs (vgl. ebd., S. 7). Da das „selbstbestimmte bzw. selbstgesteuerte Lernen zunehmend an Bedeutung gewinnt“, rückt die Rolle der Lehrer*in als „Gestalter/in von Lernumgebungen und Lernbeziehungen, Berater/in, Teammitglied [und] Netzwerker/in“ zunehmend in den Fokus (vgl. ebd.). Ein Mehr an Zeit und an multiplen Professionen an einer Schule mit Ganztagsangeboten ermöglicht eine bessere Orientierung an individuellen Potenzialen der Schüler*innen. Als Tutor*innen, Lernbegleiter*innen und als „multididaktische Talente“ gestalten Lehrkräfte an ganztägig arbeitenden Schulen Lernumgebungen, die die heterogenen Voraussetzungen der Schülerschaft berücksichtigen und jedes Kind seinen Bedürfnissen entsprechend fördern (vgl. Popp 2011, S. 38; Brinkmann/Müller 2017, S. 10). Die regelmäßige Fort- und Weiterbildung der didaktisch-methodischen Kompetenzen einer Lehrperson sowie eine ständige Reflexion des eigenen professionellen Handelns ist für die Übernahme der Rolle als Lernexpert*in Voraussetzung (vgl. KMK 2000, S. 4; Helsper 2016, S. 237 ). Insofern versteht sich eine Lehrkraft auch selber als Lernende*r.
Die von der KMK beschriebene Anforderung zur aktiven Mitgestaltung der Schule erhält an ganztägig arbeitenden Schulen eine neue Bedeutung (vgl. KMK 2000, S. 4). Neben der Unterstützung von Evaluations- und Entwicklungsprozessen nimmt dort auch die Planung und Durchführung eigener Lern- oder Freizeitangebote einen großen Raum ein (vgl. Brinkmann/Müller 2017, S. 9). Als Mitgestalter*in des Schullebens und Organisator*in von außerunterrichtlichen Ganztagsangeboten leistet eine Lehrkraft somit einen Beitrag für ein positives Schulklima. Hierbei lernt sie die Schüler*innen auch außerhalb des Unterrichts kennen, wodurch sich der Raum erweitert, in dem sie an der Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen arbeiten kann. Beim gemeinsamen Mittagessen, in Pausenzeiten oder Freizeitangeboten schätzen es die Schüler*innen ihrerseits sehr, wenn eine Lehrperson dann nicht nur als Lehrende und Erzieher*in auftritt, sondern auch als Interessent*in, geduldige Ansprechpartner*in und humorvolle Freund*in (vgl. Popp 2011, S. 39ff.).
Anpassungen der Arbeitsorganisation sowie der Arbeitszeit sowie die Erweiterung der schulischen Akteur*innen um außerschulische Partner*innen sorgen für eine Verschiebung der Aufgaben einer Lehrkraft und für Veränderungen der Erwartungen an sie. Das Rollenbild erfährt dadurch eine Weiterentwicklung. Eine Lehrkraft an einer Schule mit Ganztagsbetrieb ist nicht länger die alleinkämpfende Halbtagsjobberin, vielmehr vereint sie vielerlei Rollen:
Abb. 3: Die Rollen einer Lehrkraft entsprechend der Erwartungen der verschiedenen Akteur*innen, eigene und erweiterte Darstellung, Quelle: Rothland 2013, S. 31.
1 Der Monitor Lehrerbildung ist ein Projekt der Bertelsmann-Stiftung, Robert-Bosch-Stiftung, Deutschen Telekom Stiftung, des Stifterverbands und dem CHE Centrum für Hochschulentwicklung. Auf Basis regelmäßig erhobener Daten der Bundesländer und Hochschulen bildet das Online-Portal https://www.monitor-lehrerbildung.de/web/ die Strukturen der Lehrerbildung anhand von neun Schwerpunktthemen ab. Daneben veröffentlicht der Monitor Lehrerbildung Broschüren zur Einordnung der Ergebnisse und zur Ableitung von Handlungsempfehlungen. (vgl. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/in-vielfalt-besser-lernen/projektthemen/lehrkraefte/monitor-lehrerbildung (Zugriff: 28.07.2020).
LITERATURVERZEICHNIS
Brinkmann, B./Müller, U. (2017): Monitor Lehrerbildung. Neue Aufgaben, neue Rollen?! - Lehrerbildung für den Ganztag. online unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/neue-aufgaben-neue-rollen-lehrerbildung-fuer-den-ganztag (Zugriff: 22.07.2020).
Helsper, W. (2016): Pädagogische Lehrerprofessionalität in der Transformation der Schulstruktur – ein Strukturwandel der Lehrerprofessionalität? In: Idel, T.-S./Dietrich, F./Kunze, K./Rabenstein, K./Schütz, A. (Hrsg.): Professionsentwicklung und Schulstrukturreform. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, S. 217-245.
Henecka, H P. (2015): Grundkurs Soziologie. Konstanz: UVK.
Hollenbach-Biele, N./Zorn, D. (2016): Wie Eltern den Ganztag sehen: Erwartungen, Erfahrungen, Wünsche. Ergebnisse einer repräsentativen Elternumfrage. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Krieger, W. (2005): Ganztagsschulen in Kooperation mit außerschulischen Partnern. In: Kolbe, F.-U./Kunze, I./Idel, T.-S. (Hrsg.): Ganztagsschule in Entwicklung. Mainz: Universität Mainz, S. 65-87.
Popp, U. (2011): Wie sich Lehrkräfte an ganztägigen Schulen wahrnehmen und was sich Schüler(innen) von ihnen wünschen. In: Appel, S./Rother, U. (Hrsg.): Jahrbuch Ganztagsschule 2011. Mehr Schule oder doch: Mehr als Schule? Schwalbach, Taunus: Wochenschau-Verlag, S. 34-47.
Rehm, I. (2018): Von der Halbtags- zur Ganztagsschule. Lehrerprofessionalisierung im Übergang. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Rollett, W. (2013): Anforderungen an Lehrer/innen der Ganztagsschule. In: Erdsiek-Rave, U. /Ohnesorg, M. (Hrsg.): Gute Ganztagsschulen. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 73-78.
Rothland, M. (2013): Beruf: Lehrer/Lehrerin – Arbeitsplatz: Schule. Charakteristika der Arbeitstätigkeit und Bedingungen der Berufssituation. In: Rothland, M. (Hrsg.): Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 21-39.
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) (2000): Gemeinsame Erklärung des Präsidenten der Kultusministerkonferenz und der Vorsitzenden der Bildungs- und Lehrergewerkschaften sowie ihrer Spitzenorganisationen Deutscher Gewerkschaftsbund DGB und DBB - Beamtenbund und Tarifunion. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 05.10.2000. online unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2000/2000_10_05-Aufgaben-Lehrer.pdf (Zugriff: 22.07.2020).
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) (2015): Ganztagsschulen in Deutschland. Bericht der Kultusministerkonferenz vom 03.12.2015. online unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2015/2015-12-03-Ganztagsschulbericht.pdf (Zugriff: 22.07.2020).
Speck, K. (2012). Lehrerprofessionalität, Lehrerbildung und Ganztagsschule. In: Appel, S. /Rother , U.(Hrsg.): Jahrbuch Ganztagsschule. Schulatmosphäre - Lernlandschaften - Lebenswelt. Schwalbach, Taunus: Wochenschau-Verlag, S. 56-66.
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